auch wenn mir der sinn momentan lieber nach unterhaltung mit leichten thematiken steht, lande ich doch immer wieder bei schwer verdaulichen dingen. andererseits kann ich bei handwerklich so herausfordernden werken wie diesem nicht widerstehen – konkret war das hier eine szene pro episode ohne schnitt.
wenn das dann noch so beispielhaft umgesetzt wird wie hier und in mehrerer hinsicht fragen aufwirft, die gesamtgesellschaftlich angegangen werden mĂŒssen, ist mir das mehr als recht. eigentlich wollte ich mir die miniserie in zwei abschnitte Ă zwei folgen einteilen, am ende geschah es in einem rutsch.
auch wenn ich den inhalt nur grob wiedergeben werde: der rest ist nicht spoilerfrei – gerade was das aufzeigen der strukturellen probleme und die parallelen zu meiner sozialisierung angeht. wer sich die serie zunĂ€chst anschauen und dann nachlesen möchte, warum sie bei mir nachhaltigen eindruck hinterlĂ€sst, liest nach dem horizontalen strich am besten nicht weiter.
die wertung möchte ich dennoch vorwegnehmen: ein meisterwerk, das alles andere als angenehm anzuschauen ist und mehr fragen aufwirft als antworten zu geben.
adolescence
inhalt
der 13-jĂ€hrige jamie wird zu beginn wegen des mordes an einer mitschĂŒlerin festgenommen. im weiteren verlauf sehen sich familie, therapeut*innen, lehrer*innen und auch gleichaltrige mit der frage konfrontiert, was wirklich und vor allem weshalb diese tat geschehen ist.
umsetzung
vier folgen, zwischen 51 und 65 minuten lang und stets in einer einstellung ohne schnitt gedreht. das ist die „handwerkliche herausforderung“, von der ich eingangs sprach. selbst bei inhaltlich fĂŒr mich eher mittelprĂ€chtigen ergebnissen wie „victoria“ (jetzt ist es raus) habe ich respekt vor der organisatorischen leistung, bei der das timing fĂŒr ereignisse sowie die personen vor und erst recht hinter der kamera sitzen muss.
zugegeben: ich war vielmehr mit der handlung bzw. der darunterliegenden thematik beschÀftigt, als dass mir eventuelle kontinuitÀts- oder logikfehler aufgefallen wÀren. in der hinsicht werden ausgewiesene analyst*innen sicher etwas ausfindig machen. die durch den one-take-ansatz prÀsente unmittelbarkeit hatte mich jedenfalls von der ersten folge an. manche abschnitte lassen auch etwas durchatmen zu, aber grundsÀtzlich findet sich in jeder einzelnen episode eine verdichtung, die erstmal mental bewÀltigt werden muss.
sensationelle kameraarbeit, auch wenn mensch in manchen passagen mit wackeliger handkamera zurechtkommen muss. das ist dann jedoch der handlung angemessen. der ĂŒbergang von gimbal-gestĂŒtzter stabilisierung zu einer drohnen-fahrt mit rĂŒckkehr zur stabilisierten perspektive am ende von episode 2 sowie die in der fast kammerspielartigen episode 3 um die beiden protagonist*innen rotierende, jedoch in entscheidenden augenblicken bei den darsteller*innen verweilende kamerafĂŒhrung sind nur zwei beispiele fĂŒr das schlicht wahnsinnige niveau, auf dem hier gearbeitet worden ist.
damit habe ich noch nicht mal von den schauspielerischen leistungen angefangen. stephen graham spielt nicht nur den familienvater eddie miller, sondern hat die vorlage gleich mit entwickelt. letzteres fĂŒr ihn eine premiere. christine tremarco als mutter manda und amelie pease als jamies schwester lisa: ebenfalls groĂartig. erin doherty spielt die psychologin in episode 3, die das zweitgutachten fĂŒr jamie erstellen soll – war leider bislang nicht auf meinem schirm, wobei ich „the crown“ auch (noch) nicht gesehen habe. ich wĂŒrde mich jedoch nicht wundern, bzw. sehr freuen, wenn sie kĂŒnftig angebote fĂŒr Ă€hnliche hochkarĂ€ter-produktionen hĂ€tte.
womit ich bei owen cooper wĂ€re, der abgesehen von einem theaterstĂŒck als jamie seine erste hauptrolle in einer serie absolviert und mich absolut sprachlos zurĂŒcklĂ€sst. dieser spagat zwischen dem tief verletzten mĂ€nnlichen ich (das eigentlich noch im entstehen begriffen ist), dessen wut bei entsprechenden triggern unkontrolliert ausbricht und genau in diese lĂŒcke trifft, ob mensch ihn noch als kind oder heranwachsenden sehen soll (was fĂŒr mich eine der fragen ist, welche die serie offen lĂ€sst): ein absoluter glĂŒcksgriff, was das casting angeht. mit jetzt schon entsprechendem hype, bei dem er hoffentlich gut begleitet wird. auch er empfiehlt sich nachhaltig fĂŒr charakterrollen, wobei ich hoffe, dass er nicht auf dieses sujet abonniert bleiben wird.
grundsÀtzlich: bis in jede nebenrolle toll besetzt. die genannten beispiele stechen heraus, verdient hÀtte jede*r eine nennung.
fĂŒr wen und weshalb ĂŒberhaupt ist „adolescence“ pflichtprogramm?
ich bin immer noch vom ersteindruck geprĂ€gt, daher potentiell ĂŒberschwĂ€nglich: fĂŒr jede*n.
insbesondere jedoch: fĂŒr eltern, lehrer*innen, sozialarbeiter*innen, entscheidungstrĂ€ger*innen in sozialen medien, sozial-, medien- und familienpolitiker*innen, polizist*innen. allem voran jedoch mĂ€nner und jugendliche ab der altersfreigabe (die bei 12 jahren liegt). kann bzw. sollte auch als familie angeschaut und diskutiert werden, setzt jedoch eine offene diskussionskultur voraus.
stephen grahams motivation fĂŒr das drehbuch bestand aus zwei voneinander unabhĂ€ngigen vorfĂ€llen in england, bei denen ein junge ein mĂ€dchen erstochen hatte und der daraus resultierenden frage, was beide zu der jeweiligen tat getrieben hat.
es liegt auf der hand, eine solche serie mit klischeehaften geschlechterbildern zu inszenieren: gewalttÀtige vaterfigur mit substanzmissbrauchsproblemen und einer mutter, die das ganze aufgrund von finanzieller abhÀngigkeit erduldet und / oder schadensbegrenzung betreibt. die spitze des eisbergs an toxischer mÀnnlichkeit also.
eben diese sowie deren auswirkungen ist das hauptthema der serie. jedoch ist es deren groĂes verdienst, indem sie zeigt, dass sich unter dieser spitze wesentlich mehr verbirgt, das sich nicht in physischer gewalt, noch nicht mal in vermeintlicher emotionaler abwesenheit Ă€uĂern muss. allem anschein nach sind die millers eine funktionale familie mit eddie als familienoberhaupt, der seine vaterrolle in jeglicher (also auch emotionaler) hinsicht ernstzunehmen scheint. erst im verlauf werden die mikroskopisch klein erscheinenden fehler deutlich, bei denen eddie jamie nicht die positive spiegelung gegeben hat, die er gebraucht hĂ€tte und die zusammen mit seiner schmĂ€chtigen erscheinung, damit der vermeintlichen unattraktivitĂ€t fĂŒr mĂ€dchen, sowie dessen auĂenseiterrolle in der schule (inklusive mobbing) riesige krater der unsicherheit reiĂen. daher rĂŒhrt der titel, weil das in jamies lebensphase passiert, in der jeder junge auf der suche nach dem ist, was mĂ€nnlichkeit ĂŒberhaupt ausmacht und mit der disposition anfĂ€llig fĂŒr schĂ€dliche einflĂŒsse aus der manosphere ist.
da „adolescence“ es sich und den zuschauer*innen jedoch nicht leicht macht, gibt es auch das gegenbeispiel: adam bascombe (sohn des detective inspectors) ist ebenso zielscheibe des spotts der mitschĂŒler und beschrĂ€nkt sich in unterhaltungen mit seinem vater normalerweise nur auf das nötigste. er nimmt jedoch die entscheidende rolle in der vermittlung der codes ein, in denen die jugendlichen miteinander kommunizieren und liefert damit die begrĂŒndung fĂŒr das tatmotiv. die demĂŒtigungen nimmt er scheinbar ungerĂŒhrt hin. indirekt wird jedoch deutlich, dass er der situation zu entfliehen sucht, indem er unwohlsein vortĂ€uscht, um nicht zur schule zu mĂŒssen. auch hier scheint das vertrauen in die eltern alles andere als ausgeprĂ€gt zu sein. ausgangspunkt fĂŒr weitere offene fragen: wie lange hĂ€lt adam das noch aus? ist er von natur aus resilienter als jamie? sucht er sich positivere vorbilder?
die notwendigkeit zur differenzierten betrachtung der einzelnen beteiligten wird also deutlich, jedoch auch die hoffnungslose ĂŒberforderung vieler bezugspersonen. bei den millers wird jamie ein computer gekauft, nachdem er das interesse an kunst verliert (womit er seinen vater als idol eh nicht beeindrucken kann). und die eltern lassen ihn bis spĂ€t in die nacht gewĂ€hren, ohne eine ahnung davon zu haben, womit er sich dort beschĂ€ftigt. abends mit freunden abhĂ€ngen und erst gegen 22 uhr wiederkommen scheint ebenfalls die regel zu sein.
die schule macht den eindruck einer verwahranstalt. lehrer*innen bestreiten den unterricht eher mit videos als im dialog mit schĂŒler*innen. und der beschrĂ€nkt sich ohnehin vielmehr darauf, die meute im zaum zu halten. ein auge fĂŒr das talent oder die nöte der einzelnen: fehlanzeige. sozialarbeiter*innen gibt es, aber auch sie sind der situation nicht gewachsen. zwei tage nach dem mord an einer mitschĂŒlerin keine psycholog*innen vor ort zu haben und unterricht nach plan zu machen: grob fahrlĂ€ssig.
mĂ€nnliches fehlverhalten bzw. verbalausfĂ€lle gegenĂŒber lehrerinnen und schĂŒlerinnen werden nur pro forma geahndet, jedoch nicht ernsthaft. ein idealer nĂ€hrboden also, auf dem die ideen eines andrew tate, sich frauen durch manipulation und / oder erniedrigung untertan zu machen, gedeihen oder gleich in die tat umgesetzt werden können.
ĂŒberhaupt: die mĂ€nnliche prĂ€senz und deren ringen um dominanz ist allgegenwĂ€rtig. fĂŒr mich insbesondere deutlich durch das penetrante auftreten des wĂ€rters gegenĂŒber briony ariston (der psychologin) in der jugendpsychiatrie in episode 3. auch durch detective bascombe, der durch misha (seine kollegin) lernt, dass kĂŒnftig immer der tĂ€ter zuerst genannt wird, jedoch das weibliche opfer erst nachrangig kommt. und definitiv nicht an letzter stelle: jamies vater, der als kind physische gewalt erfuhr und es bei seinen kindern insofern besser gemacht hat, als dass sich seine wutausbrĂŒche auf dinge richteten. aber eine selbstregulation der gefĂŒhle sucht mensch bei ihm vergeblich bzw. wird dies (ganz deutlich in der vierten und letzten episode) auf manda und auch lisa ausgelagert. seine vorhandene physische stĂ€rke und prĂ€senz bietet die grundlage fĂŒr jamie, dem nacheifern zu wollen. was in der schlĂŒsselepisode 3 ĂŒberdeutlich wird.
womit ich beim fĂŒr mich unvorteilhaften teil bin, daher in aller deutlichkeit: dieses toxische mĂ€nnlichkeitsbild ist auch teil von mir und der grund, weshalb „adolescence“ bei mir – und hoffentlich vielen (werdenden) vĂ€tern sowie jugendlichen – lange nachhallen wird. auch ich hatte in dem alter bereits einen computer und – zusĂ€tzlich zu mtv nachmittags vor dem fernseher – sehr viel zeit davor verbracht, jedoch keinen internetanschluss (sehr wohl aber „wolfenstein 3d“). eine anfĂ€lligkeit fĂŒr misogyne auswĂŒchse eines andrew tate oder anderer derartiger spinner wĂ€re in jedem fall gegeben gewesen.
objektive oder empfundene schwĂ€che durch wutanfĂ€lle gegenĂŒber vermeintlich schwĂ€cheren kompensieren und sich so ĂŒber sie stellen. aufgestaute frustration und Ă€ngste weitestgehend fĂŒr sich zu behalten. sich keine verletzlichkeit zuzugestehen und mit einem an wahn grenzenden eifer nach personen zu suchen, die einem die bestĂ€tigung zuteil werden lassen, die in frĂŒhen jahren gefehlt hat oder erschĂŒttert wurde und damit keine chance hatte, zu einem selbstverstĂ€ndlichen teil des ichs zu werden. dabei auf schwache momente oder charaktere zu bauen. oder auf vermeintlich wohlmeinende menschen, die einen inklusive aller offenen wunden zu verstehen scheinen und damit umzugehen wissen. all das ist fĂŒr mich nicht unbekannt, sogar ein leider nachhaltiges muster, an dessen ĂŒberwindung ich zu knabbern haben werde.
vor dem hintergrund ist es fĂŒr mich begreifbar, weshalb ich bis zum ende der dritten episode gehofft hatte, dass der falsche verdĂ€chtigt wird. und auch darĂŒber hinaus mit jamie mitfĂŒhlen konnte, als seine zaghafte sicherheit, endlich gesehen worden zu sein, erneut erschĂŒttert wurde. und das, obwohl deutlich wird, dass das misogyne weltbild bei ihm tiefe schneisen geschlagen hat. dies macht die dritte episode mal abgesehen vom grandiosen schauspiel fĂŒr mich zum lackmustest zur bestimmung des eigenen standorts. und fĂŒhrt zu einer weiteren offenen frage: hĂ€tte irgendetwas die tragödie verhindern können oder wĂ€re es frĂŒher oder spĂ€ter eh passiert?
die serie kommt vor dem hintergrund dessen, dass einige dieser besagten spinner im allgemeinen rechtsdrall die uhr zurĂŒckdrehen und wieder beim patriarchat landen wollen, genau zur richtigen zeit. sie hĂ€lt ihm sowie dessen extremsten auswĂŒchsen den spiegel vor und zwingt zuschauer*innen geradezu, sich mit der eigenen rolle in diesem gesellschaftlichen gefĂŒge auseinanderzusetzen. ein gefĂŒge, das sehr in richtung individualisierung – polemisierend: das recht des stĂ€rkeren – driftet und das gemeinschaftliche aus dem blickfeld verliert. es liegt auf der hand, dass sich bei solchen von allgemeiner unsicherheit geprĂ€gten umbrĂŒchen so viele fragen ergeben, dass deren beantwortung auf sich warten lĂ€sst. fragen, die in der kernfamilie gestellt und auf augenhöhe verhandelt werden sollten. es ist brandgefĂ€hrlich, dass die manosphere im gleichschritt mit rechtsauĂen mit vermeintlich einfachen lösungen den raum besetzen will, in dem jungs sich zurechtfinden wollen.
„adolescence“ passt damit sehr in den zeitgeist. ich hoffe stark, dass die serie in der breite diskussionen anstöĂt. sie ist viel mehr als eine schauspielerische und technische meisterleistung. mich hat sie mit meinen mustern toxischer mĂ€nnlichkeit konfrontiert und gezeigt, dass ich nur einen teil des weges absolviert habe. es sollten also gerade die herren der schöpfung genau hinsehen.
herausforderndes, erschĂŒtterndes, vielschichtiges fernsehen, das komplexitĂ€t statt einfacher antworten vermittelt. schlicht und ergreifend: groĂartig.